Dieses Buch ist ein Roman, der so harmlos daherkommt und dann mit so einer Tiefe aufwartet, dass ich gar nicht anders konnte als mich hinzusetzen, eine Rezension zu schreiben und es euch wärmstens ans Herz zu legen: Lest es!
Es hat mich so sehr berührt, dass ich, kaum dass ich die letzte Zeile gelesen hatte, Luca Mael Milsch direkt eine Nachricht auf Instagram geschrieben und für das Buch gedankt habe.
Das Buch ist im März 2024 im Haymon Verlag erschienen.
In diesem Debütroman beschreibt Luca Mael Milsch eine Mutter-Tochter-Beziehung, die wahrscheinlich tausendfach so stattfindet, aber über die nur sehr selten gesprochen wird. Denn es gibt keine wirkliche böse Absicht und keine Gewalt, die solche Spuren hinterlässt, dass sie auf den ersten Blick erkennbar sind. Und doch ist es eine Form der Gewalt, die Auswirkungen auf das ganze Leben haben und Beziehungen nachhaltig erschüttern kann.
Es geht um Selah. Um Selah die vor ihrem Leben flüchtet, irgendwohin ans Meer, drei Monate lang weg. Einfach weil ihr alles zu viel geworden ist, ihre Arbeit, ihr Leben, alles drumherum. Dabei geht es ihr eigentlich ganz gut und dennoch ist dort etwas, was tief in ihr nagt und endlich ans Licht kommen und aufgearbeitet werden will.
Es ist die Beziehung zu ihrer Mutter. Ihrer Mutter die Selah nur noch im Hospiz besuchen kann. Diese Tatsache erweckt in Selah nicht nur ein Durcheinander an Gefühlen, sondern auch eine Art Zeitdruck. Denn die Tatsache, dass ihre Mutter bald sterben wird bedeutet, dass Selah sich entscheiden muss: Wenn sie jemals ihre Kindheit gemeinsam mit ihrer Mutter aufarbeiten möchte, dann bleibt dafür nicht mehr viel Zeit.
Doch will Selah das überhaupt?
Denn in den letzten Jahren war sie vor allem in einem sehr gut: Ihre Vergangenheit mit allen Schatten, Ängsten und Traumata zu verdrängen. Was schlussendlich funktioniert hat. Nach einer selbstzerstörerischen Zeit als junge Erwachsene hat sie mittlerweile eine eigene Familie gefunden. Menschen, die sie lieben, die sie so annehmen wie sie als Mensch wirklich ist und nicht nur dafür, was sie tut.
Das war früher ganz anders, als sie noch bei ihrer Mutter gelebt hat. Hier zählte vor allem Leistung, Anpassung, Gehorsam. Der Mutter nicht zur Last fallen und nur dann im Mittelpunkt stehen, wenn die Mutter mit der Leistung ihrer Tochter glänzen kann.
So wird das Talent zum Klavierspielen hochgelobt, die Tatsache aber, dass Selah lieber Serien schaut, wenn sie allein zu Hause ist, anstatt die Wohnung aufzuräumen und Hausaufgaben zu machen jedoch gerügt. Ein Argument ist natürlich, dass Selahs Mutter alleinerziehend ist, lange arbeitet, versucht, das Geld zusammenzuhalten und auf die Unterstützung ihrer Tochter setzt.
Aber andererseits ist Selah eben auch nur ein Kind. Ein Kind dem viel Verantwortung aufgebürdet wird und welches bestraft wird, wenn es dieser nicht gerecht wird. Bestraft mit enttäuschten Blicken, mit Nichtbeachtung, mit dem Gefühl, nie gut genug zu sein.
Selah wünscht sich oft, einfach verschwinden zu können, rein in den Fernseher zu ihrer Lieblingsserie und einfach weg sein. Es funktioniert natürlich nicht, im Gegenteil.
Auch wenn die beiden keine innige Beziehung führen, schafft es die Mutter es auch Jahre später noch, die mittlerweile erwachsene Selah in emotionaler Abhängigkeit zu halten. Der einzige Lichtblick für Selah ist ihre Oma, deren Wärme auch durch den Telefonhörer zu ihr dringt. Doch wie soll sie Selahs Verletzungen heilen, wenn sie nichts davon weiß? Wie der Gewalt Einhalt gebieten? Denn Selah kann als Kind nichts beschreiben, wozu sie selbst keinen Namen und erst recht keine sichtbaren Beweise hat. Nur ein Gefühl, das zudem noch mit der Solidarität eines Kindes zur eigenen Mutter kollidiert.
So bleibt Selah allein mit all ihrer Vergangenheit, versucht sie irgendwann in Sex und Alkohol zu ertränken oder zu vergessen. Es funktioniert fast, denn schließlich findet sie eine eigene Familie, erlebt eine bedingungslose Form der Liebe und fast so etwas wie persönlichen Frieden. Bis die Vergangenheit sie erneut einholt und ihr ein Ultimatum setzt.
Dieses Buch war wirklich eine intensive Erfahrung. Zum einen, weil Luca Mael Milsch es schafft, uns Selahs Gefühle in einer sehr intensiven Weise nahezubringen. Aber auch, weil ich mich mit meiner eigenen Vergangenheit mehr als einmal selbst zwischen den Zeilen entdeckt habe. Ich werde hier nicht persönlicher werden, aber ich bin dankbar dafür, dass dieses Buch diese Geschichte erzählt und glaube fest daran, dass es viele weitere Menschen finden wird, die sich, vielleicht zum ersten Mal, gesehen fühlen werden.
Gleichzeitig hat Milsch mit diesem Buch eine Warnung geschrieben. Es ist eine Warnung an uns genau hinzusehen, die Menschen um uns herum wirklich anzunehmen, so wie sie sind und nicht nur so, wie wir sie sehen oder haben wollen. Vor allem, wenn wir Verantwortung für Kinder tragen, die von uns existentiell abhängig sind.
Denn auch Gewalt, die keine äußeren Verletzungen verursacht, kann Kratzer auf der Seele hinterlassen und wenn das Leben uns später Zitronen beschert, spüren wir das Brennen der Narben.
Danke an Luca Mael Milsch für dieses Buch.
Danke an Bianca Kneißl vom Haymon Verlag, dass du mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht hast. Ich hatte dir ja am Telefon schon gesagt, dass wir das Buch für’s kohsie Sortiment auf dem Schirm hatten. Aber es war für mich persönlich tatsächlich heilsam, es auch selbst zu lesen.